Die Behörden im Kanton Bern haben die Tötung eines Luchses, identifiziert als B903, angeordnet, da dieser ungewöhnlich oft Nutztiere angegriffen hat. Die Entscheidung ist umstritten, da das Tier die offizielle Abschussgrenze für eine solche Massnahme nicht erreicht hatte und einige der angegriffenen Schafe einem prominenten nationalen Politiker gehörten.
Wichtigste Erkenntnisse
- Ein Luchs namens B903 wurde im Berner Oberland zur Tötung freigegeben, weil er wiederholt Nutztiere angegriffen hat.
- Die Entscheidung wurde aufgrund einer Ausnahmeklausel getroffen, da der Luchs die üblicherweise für eine Entnahme erforderlichen 12 Tiere nicht getötet hatte.
- Der Fall hat aufgrund der Beteiligung hochrangiger SVP-Politiker, einschliesslich des Besitzers einiger der angegriffenen Schafe, Aufmerksamkeit erregt.
- Naturschutzorganisationen haben den Schritt kritisiert und ihn als "gefährlichen Präzedenzfall" für das Wildtiermanagement in der Schweiz bezeichnet.
Abschussverfügung für Luchs B903 erlassen
Ein männlicher Luchs namens B903, der im Berner Oberland unterwegs ist, soll nach einer öffentlichen Bekanntmachung im Berner Amtsblatt von einem Wildhüter geschossen werden. Die kantonalen Behörden haben in Absprache mit dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) die Tötung aufgrund der wiederholten Angriffe des Luchses auf Nutztiere genehmigt.
Diese Entscheidung ist ungewöhnlich, da B903 nicht die 12 Nutztiere getötet hat, die gemäss dem nationalen "Luchs-Konzept" normalerweise erforderlich sind, bevor ein geschützter Prädator getötet werden darf. Die Behörden begründeten den Schritt mit einer Ausnahmeregelung und argumentierten, dass sich der Luchs abnormal auf die Jagd von Haustieren anstatt seiner natürlichen Beute spezialisiert habe.
Das 'Luchs-Konzept' verstehen
Die nationale Strategie der Schweiz zur Bewirtschaftung ihrer Luchs-Population legt spezifische Bedingungen fest, unter denen ein geschütztes Tier entnommen werden kann. Eine wichtige Schwelle ist die Tötung von 12 Nutztieren durch einen einzelnen Luchs innerhalb eines definierten Zeitraums. Die Richtlinie enthält jedoch Ausnahmen für Individuen, die eine klare und anhaltende Spezialisierung auf die Jagd von Nutztieren zeigen, auch wenn die Schwelle nicht erreicht wird, um weitere Schäden zu verhindern.
Politische Verbindungen unter Beobachtung
Die Kontroverse um die Entscheidung wird durch den politischen Kontext verstärkt. Mitte August griff B903 mehrere Schafe auf der Ueschenen Alp an und tötete sie. Der Besitzer dieser Tiere wurde als Ernst Wandfluh, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP), bestätigt.
Wandfluh bestätigte, dass er als betroffener Schafhalter Gespräche mit der Jagdinspektion geführt und sich für eine Abschussbewilligung eingesetzt habe. Er erklärte, dass diese Gespräche konstruktiv und im Rahmen der üblichen Verfahren für Landwirte mit Raubtierangriffen verlaufen seien.
Weitere Aufmerksamkeit wurde anderen politischen Persönlichkeiten aus der Region zuteil. Der Chef des für das BAFU zuständigen Bundesdepartements ist Bundesrat Albert Rösti, ebenfalls SVP, der in einem Nachbardorf von Wandfluh aufgewachsen ist. Zudem hatte Nationalrat Thomas Knutti (SVP), ein lautstarker Kritiker grosser Raubtiere, seit Monaten öffentlich die Entnahme des Luchses gefordert.
Dementi unsachgemässer Einflussnahme
Trotz der Verbindungen haben alle Beteiligten bestritten, dass politischer Druck das Ergebnis beeinflusst habe. Wandfluh erklärte, er habe die Angelegenheit vor der Erteilung der Bewilligung nicht mit Bundesrat Rösti besprochen. Er betonte, dass die Entscheidung von technischen Experten auf kantonaler und eidgenössischer Ebene aufgrund des Verhaltens des Tieres getroffen wurde.
"Albert Rösti hat damit nichts zu tun", sagte Wandfluh und versicherte, dass der Prozess den gesetzlichen Richtlinien entsprochen habe.
Auch die Behörden betonen, dass die Entscheidung ausschliesslich auf der Grundlage von Beweisen getroffen wurde, dass B903 eine atypische Vorliebe für Nutztiere entwickelt hatte. Der zuständige Beamte auf kantonaler Ebene, der Berner Regierungsrat Christoph Ammann, ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SP), nicht der SVP.
Zeitleiste der Aktivitäten von B903
- 2022: Erstmalig identifiziert und von der Kora-Stiftung überwacht.
- Dezember 2022: Eine Fotofalle in Reichenbach bestätigte, dass es sich um einen männlichen Luchs handelte.
- Sommer 2024: B903 griff eine Herde auf der Alp Tschingel an und tötete innerhalb einer Woche mindestens acht Schafe.
- August 2024: Griff Schafe von Nationalrat Ernst Wandfluh auf der Ueschenen Alp an.
- September 2024: Tötete bei einem separaten Vorfall zwei Ziegen, was zur Genehmigung des Abschusses führte.
Ein Ausnahmefall von Raubtierverhalten
Luchs B903 wurde erstmals 2022 von der Kora-Stiftung, einer Organisation, die Wildtiere in der Schweiz überwacht, dokumentiert. Zwei Jahre lang verhielt er sich wie erwartet und jagte Wildbeute wie Rehe und Gämsen im Gebiet Kandertal. Sein Verhalten änderte sich jedoch im Sommer 2024 dramatisch.
Die Veränderung begann mit mehreren Angriffen auf eine Schafherde auf der Alp Tschingel, wo er mindestens acht Tiere tötete. Damals stellten die Behörden fest, dass die Anzahl der Tötungen für eine Abschussbewilligung nicht ausreichte. Nach einer ruhigen Phase setzten die Angriffe auf der Ueschenen Alp fort, gefolgt von der Tötung zweier Ziegen im September. Dieses Muster überzeugte die Behörden, dass der Luchs zu einem spezialisierten Nutztierräuber geworden war.
Naturschutzorganisationen äussern Bedenken
Die Entscheidung, die Standardschwelle zu umgehen, wurde von einigen Wildtierschutzorganisationen scharf kritisiert. Die Gruppe Wolf Schweiz veröffentlichte eine Erklärung, in der sie den Schritt als höchst problematisch bezeichnete.
"Einen Luchs zur Tötung freizugeben, ohne dass er die Schwelle für erhebliche Schäden gemäss dem eidgenössischen Luchs-Konzept erreicht hat, ist sehr kritisch", schrieb die Organisation. Sie warnte, dass "der Kanton Bern einen gefährlichen Präzedenzfall schafft."
Historischer Kontext des Luchs-Mensch-Konflikts
Laut Experten ist das von B903 gezeigte Verhalten selten, aber nicht unbekannt. Nina Gerber, Direktorin der Kora-Stiftung, stellte fest, dass es in den letzten 28 Jahren in der Schweiz nur 14 vergleichbare Fälle gegeben hat.
"Luchse jagen normalerweise Wildtiere, vorzugsweise Rehe oder Gämsen", erklärte Gerber. Diese natürliche Prädation spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Pflanzenfresserpopulationen, was wiederum dazu beiträgt, junge Bäume und empfindliche Alpenpflanzen vor Überweidung zu schützen.
Die bedeutendste Konfliktperiode zwischen Luchsen und Bauern in der Schweiz ereignete sich in den 1990er Jahren. Allein 1999 wurden über 200 Nutztierangriffe registriert. Dieser Anstieg wurde auf eine wachsende Luchs-Population zu einer Zeit zurückgeführt, als die Rehbestände zurückgingen, was die Raubtiere zwang, alternative Nahrungsquellen zu suchen.
Luchs-Prädation in der Schweiz
Gemäss den neuesten Jahreszahlen wurden in der Schweiz 112 Nutztiere von Luchsen getötet. Davon waren 40 in den Alpen und 72 im Jura. Trotz der aktuellen Kontroverse erwarten Experten keinen signifikanten Anstieg der Gesamtkonflikte mit Nutztierhaltern.
Jüngste ähnliche Fälle gab es auch anderswo. Im Kanton Schwyz wurde letztes Jahr ein Luchs zur Tötung freigegeben, nachdem angenommen wurde, dass er hauptsächlich Schafe frisst. Ein weiterer Vorfall wurde in Rheinland-Pfalz, Deutschland, gemeldet, wo ein Luchs acht Nutztiere tötete. Trotz dieser Einzelfälle glauben sowohl kantonale Behörden als auch Wildtierexperten, dass die Situation mit B903 eine Anomalie ist und nicht auf einen breiteren Trend hindeutet.




