Ein Expertenbericht der ETH Zürich empfiehlt, die umstrittene Grauholz-Autobahnerweiterung voranzutreiben, ein Projekt, das zuvor von Schweizer Stimmberechtigten abgelehnt wurde. Derselbe Bericht rät, die Umfahrung Bern Ost, ein wichtiges Stadtentwicklungsprojekt, zu verzögern, was sofortige Kritik von der Berner Stadtregierung und lokalen Organisationen hervorruft.
Wichtige Erkenntnisse
- Eine Studie der ETH Zürich empfiehlt, die Grauholz-Autobahnerweiterung zu priorisieren, obwohl ein nationales Referendum sie 2023 abgelehnt hat.
 - Der Bericht stuft die Umfahrung Bern Ost, ein Projekt zur Stadterneuerung durch Tunnellösung eines Autobahnabschnitts, als gering priorisiert ein.
 - Der Berner Stadtrat, angeführt von Verkehrsdirektor Matthias Aebischer, lehnt die Empfehlungen entschieden ab und verspricht, für die Umfahrung zu kämpfen.
 - Wirtschafts- und Umweltverbände haben ebenfalls Teile des Berichts kritisiert, was eine tiefe Spaltung in der regionalen Verkehrspolitik aufzeigt.
 
ETH-Bericht entfacht Autobahndebatte neu
Eine umfassende Analyse der Berner Hauptverkehrsprojekte, in Auftrag gegeben von Bundesrat Albert Rösti und durchgeführt von Professor Ulrich Weidmann von der ETH Zürich, hat zwei zentrale Infrastrukturpläne auf Kollisionskurs gebracht. Der Bericht schlägt vor, die Erweiterung des Autobahnabschnitts Grauholz zu priorisieren und gleichzeitig das Projekt Umfahrung Bern Ost herabzustufen.
Diese Empfehlung stellt die langfristige Stadtplanung und Verkehrsstrategie der Stadt Bern direkt in Frage. Stadtvertreter haben erhebliche Bedenken hinsichtlich der Ergebnisse des Berichts geäussert, was die Bühne für eine politische Konfrontation mit der Bundesregierung bereitet.
Hintergrund des Konflikts
Die Debatte dreht sich um die Bewältigung des Verkehrsstaus in der Region Bern. Der Grauholz-Abschnitt der Autobahn A1 ist ein bekannter Engpass. Die Umfahrung Bern Ost soll ein anderes Problem lösen: die negativen Auswirkungen der Autobahn Ostring, die ein dicht besiedeltes Wohngebiet durchschneidet, indem sie unterirdisch verlegt wird.
Berns Verkehrsdirektor, Matthias Aebischer von der Sozialdemokratischen Partei, hat erklärt, dass die Stadt die Schlussfolgerungen des Berichts nicht kampflos akzeptieren wird. Er betonte, dass die Stadtregierung weiterhin für ihre Vision einer nachhaltigen Stadtentwicklung eintreten wird.
Grauholz-Erweiterung trotz öffentlicher Ablehnung empfohlen
Einer der umstrittensten Punkte im ETH-Bericht ist die Empfehlung, die Erweiterung der Grauholz-Autobahn voranzutreiben. Der Plan sieht vor, den Abschnitt zwischen Wankdorf und Schönbühl von sechs auf acht Spuren zu verbreitern. Eine weitere Erweiterung von vier auf sechs Spuren zwischen Schönbühl und Kirchberg wird ebenfalls durch die Umwandlung des Pannenstreifens vorgeschlagen.
Dieser Vorschlag ist umstritten, da Schweizer Stimmberechtigte im November 2023 in einem nationalen Referendum ein Paket von sechs Autobahnerweiterungsprojekten, einschliesslich Grauholz, abgelehnt haben. Die Massnahme wurde landesweit mit 52% der Stimmen abgelehnt.
Lokaler Widerstand war stark
Gemäss den offiziellen Ergebnissen war der Widerstand gegen die Autobahnerweiterung in der Stadt Bern noch ausgeprägter, wo 75% der Wähler den Vorschlag ablehnten. Dieses starke lokale Mandat ist ein Schlüsselargument für die Stadtvertreter, die die neue Empfehlung ablehnen.
Matthias Aebischer äusserte seine Erwartung, dass der Bundesrat das Ergebnis des Referendums respektieren wird.
„Ich gehe davon aus, dass der Bundesrat auf das Volk hört“, erklärte Aebischer und hob die klare demokratische Entscheidung hervor, die vor weniger als einem Jahr getroffen wurde.
Bundesrat Albert Rösti verteidigte jedoch die Aufnahme des Projekts in den Bericht. Er argumentierte, dass das Referendum ein Paket von sechs Projekten betraf und nicht einzeln Grauholz. Er merkte auch an, dass jeder Schritt zur Wiederaufnahme des Projekts eine neue parlamentarische Entscheidung erfordern würde, die selbst einem weiteren Referendum unterliegen könnte.
Umfahrung Bern Ost de-priorisiert
Die Stadtregierung hat ihre tiefe Enttäuschung über die Bewertung der Umfahrung Bern Ost im Bericht zum Ausdruck gebracht. Das Projekt, das den Bau eines neuen 3,3 Milliarden Schweizer Franken teuren Tunnels zur Untertunnelung der Autobahn zwischen Schosshalde und Muri vorsieht, wurde auf Platz fünf von sechs Prioritätsstufen eingestuft. Der Bericht bezeichnete es als „langfristig gering priorisiert“ und stellte sowohl seine Notwendigkeit als auch die vorgeschlagene Lösung in Frage.
In einer offiziellen Stellungnahme bedauerte der Berner Stadtrat dieses Ergebnis „ausdrücklich“. Der Rat argumentiert, dass die Bewertung des Berichts, die sich hauptsächlich auf Verkehrs-, strategische und finanzielle Kriterien stützt, veraltet ist und kritische städtebauliche Ziele nicht berücksichtigt.
Die Umfahrung wird von der Stadt nicht nur als Verkehrsprojekt, sondern als eine wichtige Initiative zur „Stadtreparatur“ angesehen. Ziel ist es, Stadtteile, die derzeit durch den offenen Autobahngraben geteilt sind, wieder zu verbinden und die Lebensqualität für Tausende von Bewohnern zu verbessern.
Breite Unterstützung für die Umfahrung
Die Stadt ist nicht allein mit ihrer Kritik. Der „Fokusraum Bern Ost“, eine regionale Partnerschaft, die die Stadt, den Kanton und die Gemeinden Muri und Ostermundigen umfasst, hat die Bundesregierung ebenfalls aufgefordert, die Ergebnisse des Berichts zu korrigieren. Sie bestehen darauf, dass raumplanerische Kriterien in den endgültigen Entscheidungsprozess einbezogen werden müssen.
Interessanterweise haben sogar Wirtschaftsverbände, die die Grauholz-Erweiterung unterstützen, die Entscheidung zur Umfahrung in Frage gestellt. Der kantonale Handels- und Industrieverein (HIV) bezeichnete die De-Priorisierung der Umfahrung Bern Ost als „unverständlich“, was auf einen seltenen Konsens zwischen Wirtschaftsinteressen und der Stadtregierung hindeutet.
Auswirkungen auf den Wankdorf-Knoten
Die Empfehlungen des Berichts haben Unsicherheit für ein weiteres verwandtes Projekt geschaffen: die Erweiterung des Wankdorf-Autobahnknotens. Die Bundesregierung hat die Pläne für diesen Anschluss bereits genehmigt, aber die Stadt Bern hat Berufung eingelegt, um städtebauliche Verbesserungen zu sichern.
Gegner der Wankdorf-Erweiterung argumentieren, dass das Projekt mit Blick auf die Umfahrung Bern Ost konzipiert wurde. Da die Umfahrung nun in Frage steht, behaupten sie, dass der grossflächige Anschluss überdimensioniert und ungerechtfertigt sei.
- Spurwechsel Bern: Der Verein hinter der erfolgreichen Initiative „Stoppt das Verkehrsungeheuer Wankdorf“ fordert nun einen „sofortigen Stopp“ des Genehmigungsverfahrens für das Wankdorf-Projekt.
 - VCS Region Bern: Der Verkehrs- und Umweltverband bezeichnete die Wankdorf-Erweiterung ohne die Umfahrung als ein „isoliertes und überdimensioniertes Projekt, dem jede Rechtfertigung fehlt.“
 
Der Stadtrat befindet sich in einer komplexen Lage, da er die Initiative akzeptiert hat, die ihn rechtlich dazu verpflichtet, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um Strassenprojekte, die mehr Verkehr erzeugen, abzulehnen.
Nächste Schritte und politischer Ausblick
Die Debatte über Berns Verkehrszukunft ist noch lange nicht beendet. Bundesrat Röstis Departement (Uvek) hat angekündigt, im Januar eine formelle Antwort auf den ETH-Bericht zu veröffentlichen. Zuvor wird es Rückmeldungen von den betroffenen Regionen, einschliesslich der Stadt und des Kantons Bern, einholen.
Diese Konsultationsphase bietet lokalen Behörden und Interessengruppen die Möglichkeit, ihre Einwände formell vorzubringen. Matthias Aebischer hat die Haltung der Stadt klargestellt: „Der Stadtrat wird für die Umfahrung kämpfen.“ Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Expertenempfehlungen die Bundespolitik leiten werden oder ob lokaler und demokratischer Widerstand einen Kurswechsel erzwingen wird.




