Die FDP (Freisinnig-Demokratische Partei) hielt am Samstag ihre Delegiertenversammlung im Berner Wankdorfstadion ab, um die Haltung der Partei zu neuen Abkommen mit der Europäischen Union zu erörtern. Das entscheidende Treffen folgte auf monatelange intensive interne Debatten und mündete in eine wichtige Entscheidung für die zukünftige Beziehung der Schweiz zur EU. Die Partei bleibt in dieser Frage tief gespalten.
Wichtigste Erkenntnisse
- FDP-Delegierte debattierten die zukünftige Beziehung der Schweiz zur EU.
- Ehemalige Bundesräte waren sich öffentlich uneinig über die EU-Abkommen.
- Eine Arbeitsgruppe konnte keinen Konsens erzielen und legte zwei Vorschläge vor.
- Aussenminister Ignazio Cassis sprach sich für die neuen Abkommen aus.
- Ein zentraler Streitpunkt ist, ob ein 'Ja' eine Volksmehrheit und eine Mehrheit der Kantone erfordert.
Intensive interne Spaltungen und öffentliche Meinungsverschiedenheiten
Die FDP-Versammlung war von erheblichen internen Spannungen geprägt. Tage vor der Veranstaltung kam es zu öffentlichen Meinungsverschiedenheiten unter Parteimitgliedern, darunter auch ehemaligen Bundesräten. Dies verdeutlichte die tiefen Gräben innerhalb der Partei bezüglich der vorgeschlagenen EU-Abkommen.
Der ehemalige Bundesrat Johann Schneider-Ammann, 73 Jahre alt, veröffentlichte einen Gastkommentar in der NZZ. In seinem Artikel sprach er sich gegen die neuen EU-Verträge aus. Seine Haltung rief eine scharfe Reaktion von FDP-Nationalrat und Unternehmer Simon Michel hervor.
Simon Michel, 48, ein starker Befürworter der EU-Abkommen, kommentierte auf LinkedIn. Er stellte Schneider-Ammanns Artikel in Frage. Michel entschuldigte sich später auf der Versammlung für seine Äusserungen.
„Die Debatte wurde hitzig“, sagte FDP-Nationalrat Simon Michel auf der Bühne. „Das ging zu weit. Es war respektlos. Ich hoffe, Johann Schneider-Ammann nimmt meine Entschuldigung an.“
Michels Entschuldigung erfolgte nach seinem früheren Social-Media-Post. Er hatte geschrieben: „Wer Johann Schneider-Ammann kennt, weiss, dass er a) so nicht denkt und b) aus gesundheitlichen Gründen so nicht mehr schreiben kann.“ Schneider-Ammann war Berichten zufolge nicht bei der Versammlung anwesend.
Fakt: Grösse der FDP-Delegation
Rund 500 Personen meldeten sich für die FDP-Delegiertenversammlung an, was ein grosses Interesse an der EU-Debatte zeigt.
Die „Monsterdebatte“ und divergierende Vorschläge
Die Versammlung umfasste eine ausgedehnte Debatte, bei der sich über 100 Personen als Redner angemeldet hatten. Dies führte zu Erwartungen einer „Monsterdebatte“. Um eine Parteispaltung zu verhindern, wurde vor Monaten eine spezielle Arbeitsgruppe eingesetzt. Diese Gruppe bestand aus zwölf Mitgliedern, die beauftragt waren, eine einheitliche Position zu den EU-Abkommen zu entwickeln.
Die Arbeitsgruppe umfasste sechs EU-Skeptiker und sechs EU-Befürworter. Trotz ihrer Bemühungen konnten sie keinen Konsens erzielen. Statt eines einzigen Papiers wurden den Delegierten zwei separate Vorschläge zur Prüfung vorgelegt. Dieses Ergebnis unterstrich die anhaltenden Spaltungen innerhalb der Partei.
Die Debatte begann mit Präsentationen der EU-Befürworter. FDP-Fraktionschef Damien Cottier betonte, dass es entgegen einiger Behauptungen keinen Status quo gebe. Er listete die Forderungen auf, die die Partei für die neuen Verträge gestellt hatte.
„Ja, liebe Freunde, die FDP hat mit all ihren Forderungen Erfolg gehabt“, erklärte Cottier. „Jetzt müssen wir konsequent sein. Sagen wir ja zur Weiterentwicklung des bilateralen Wegs.“
Kontext: Der bilaterale Weg
Der „bilaterale Weg“ der Schweiz bezieht sich auf eine Reihe von Verträgen und Abkommen mit der Europäischen Union. Diese Abkommen zielen darauf ab, verschiedene Aspekte der Beziehung zu regeln und der Schweiz den Zugang zum EU-Binnenmarkt zu ermöglichen, während sie ausserhalb der EU bleibt. Befürworter argumentieren, dass neue Abkommen entscheidend sind, um diesen Weg aufrechtzuerhalten.
Argumente für und gegen die Abkommen
Simon Michel, ein prominenter EU-Befürworter innerhalb der FDP, argumentierte für die Notwendigkeit der Abkommen. Er verglich die Situation mit Nachbarschaftsregeln.
„In jedem Quartier gibt es Regeln“, erklärte Michel. „Genau um solche Regeln geht es. Wir brauchen hier Rechtssicherheit, die bestehenden Regeln sind veraltet. Für mich ist klar: Eine Weiterführung des bilateralen Wegs ist keine Option. Sie ist eine Notwendigkeit. Sie ist der Königsweg der Schweiz.“
Nach den Befürwortern präsentierten die EU-Skeptiker ihre Argumente. FDP-Stadtrat Filippo Leutenegger führte diese Gruppe an. Er stellte die Idee einer Angleichung an das EU-Rechtssystem in Frage.
„Wir glauben nicht, dass die Anbindung an das EU-Rechtssystem das Richtige ist“, sagte Leutenegger. Er widersprach Michel und erklärte: „Die EU ist nicht unser Nachbar. Unser Nachbar ist Deutschland, unser Nachbar ist die Lombardei, unser Nachbar ist nicht Brüssel.“
FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen hielt eine energische Rede. Er äusserte Bedenken hinsichtlich der nationalen Souveränität. „Wir geben Souveränität auf. Wir lassen uns von direktdemokratischen Entscheiden beeinflussen und beeindrucken.“
Aussenminister Cassis' Plädoyer und Warnungen
Aussenminister Ignazio Cassis sprach früh in der Versammlung zu den Delegierten. Für Cassis stellen diese EU-Abkommen einen entscheidenden Teil seines Vermächtnisses dar. Er hat sich in den letzten Monaten aktiv für deren Annahme eingesetzt.
Cassis sprach zuerst auf Deutsch, eine bewusste Wahl, um die deutschsprachigen Delegierten zu überzeugen. Diese Gruppe steht den EU-Abkommen im Allgemeinen skeptischer gegenüber als ihre Kollegen aus der Westschweiz.
Cassis warnte vor den Folgen der Untätigkeit. „Ohne neue Schritte wird der bilaterale Weg mittelfristig auslaufen“, erklärte er. Er verwies auf die Erfahrungen von Sektoren wie Medtech und Hochschulbildung, seit der Bundesrat das Rahmenabkommen 2021 beendet hatte. Er hob die negativen Auswirkungen hervor, die in diesen Bereichen zu spüren waren.
„Sie stützen unseren Wohlstand“, sagte Cassis bezüglich der Abkommen. Er betonte, dass neue Abkommen wichtige Vorteile bringen und zwei institutionelle Fragen angehen würden: die dynamische Rechtsübernahme und die Streitbeilegung. Diese beiden Punkte sind innerhalb der FDP besonders umstritten.
Cassis stellte klar, dass die Rechtsübernahme zwar dynamisch, aber nicht automatisch erfolgen würde. Er schloss seine Rede mit deutlichen Worten und erklärte: „Heute bin ich hier, um Rechenschaft abzulegen.“ Er listete Versprechen auf, die er bezüglich der Verträge gemacht hatte, und versicherte, dass jedes davon „erfüllt“ worden sei.
„Das vorliegende Ergebnis ist die Fortsetzung des bilateralen Wegs. Dies ist der liberale Weg zwischen Beitritt und Alleingang“, erklärte Cassis. Er versicherte den Delegierten, dass die neuen Verträge die Schweizer Souveränität nicht einschränken würden. Seine Botschaft war klar: Die Delegierten sollten Ja stimmen.
- Dynamische Rechtsübernahme: Dies bezieht sich auf den Prozess, bei dem die Schweiz ihre Gesetze an die Entwicklungen des EU-Rechts in bestimmten Bereichen anpassen würde.
- Streitbeilegung: Dies beschreibt den Mechanismus zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen der Schweiz und der EU bezüglich der Auslegung oder Anwendung von Abkommen.
Ein möglicher Rückschlag für Cassis? Die Ständemehr-Frage
Während viele FDP-Parlamentarier ein 'Ja' der Delegierten zu den Abkommen erwarten, fügt eine weitere Frage Komplexität hinzu: ob ein 'Ja' auch eine Mehrheit der Kantone (Ständemehr) in einer nationalen Abstimmung erfordern würde. Diese Frage scheint innerhalb der Partei engere Mehrheiten zu haben.
Einige sehen ein 'Ja' mit der Ständemehr-Anforderung als Kompromiss. Dieser Ansatz könnte skeptische Parteimitglieder an Bord holen. Das neue Führungsduo, Susanne Vincenz-Stauffacher und Benjamin Mühlemann, die am Samstag ihr Amt antraten, haben sich offen für diese Lösung gezeigt. Sie folgten dem scheidenden FDP-Präsidenten Thierry Burkart nach.
Die Hinzufügung der Ständemehr-Bedingung könnte die Angelegenheit für Aussenminister Cassis jedoch erschweren. Die Ständemehr-Anforderung war historisch eine Hürde für EU-bezogene Abkommen in der Schweiz und trug insbesondere zum Scheitern des EWR-Beitritts bei. Sollten die Verträge an der Urne aufgrund dieser Anforderung scheitern, könnte die Schuld auf Cassis' eigene Partei fallen. Dieser Kompromiss auf der Delegiertenversammlung könnte der SVP (Schweizerische Volkspartei) in einer möglichen Abstimmungskampagne unbeabsichtigt zugutekommen.
Schlüsselfiguren in der Debatte
- Ignazio Cassis: Aussenminister, führender Befürworter der EU-Abkommen.
- Johann Schneider-Ammann: Ehemaliger Bundesrat, sprach sich gegen die Abkommen aus.
- Simon Michel: FDP-Nationalrat, starker Befürworter der Abkommen, entschuldigte sich öffentlich für Äusserungen.
- Filippo Leutenegger: FDP-Stadtrat, Anführer der EU-Skeptiker.
- Christian Wasserfallen: FDP-Nationalrat, äusserte Bedenken hinsichtlich der Souveränität.
Abwesenheit von Bundesrätin Karin Keller-Sutter
Bundesrätin Karin Keller-Sutter konnte an der Versammlung nicht teilnehmen. Sie war aufgrund eines familiären Trauerfalls abwesend. FDP-Nationalrat Damian Müller übermittelte ihre Grüsse und das Beileid der Partei. „Sie lässt herzlich grüssen“, sagte Müller. „Im Namen der FDP-Familie sprechen wir ihr unser tiefstes Beileid aus.“ Keller-Sutter nahm an der Beerdigung ihres kürzlich verstorbenen Bruders, Walter „Jesy“ Sutter, teil.
Die FDP-Delegiertenversammlung endete mit der Wahl des neuen Parteipräsidiums. Die gesamte Veranstaltung sollte voraussichtlich bis etwa 18 Uhr dauern, was die Komplexität und Bedeutung der getroffenen Entscheidungen widerspiegelt.




