Die Schweiz steht vor einer wachsenden Wohnungsnot, gekennzeichnet durch hohe Mieten und lange Pendelzeiten. Dr. Sibylle Wälty, eine führende Forscherin für Raumentwicklung an der ETH Zürich, schlägt eine Lösung vor, die auf der Schaffung kompakterer, lebenswerter Stadtgebiete basiert. Ihre Vision konzentriert sich auf die Entwicklung von «10-Minuten-Quartieren», in denen die Bewohner die täglichen Notwendigkeiten innerhalb eines kurzen Spaziergangs erreichen können.
Wichtige Erkenntnisse
- Die Schweizer Wohnungsnot wird durch erhöhten Flächenverbrauch und die Umwandlung von Wohngebieten in Büros verursacht.
- Dr. Sibylle Wälty plädiert für «10-Minuten-Quartiere», um Pendelzeiten zu reduzieren und Mieten zu stabilisieren.
- Diese Quartiere erfordern mindestens 15'000 Einwohner und einen Arbeitsplatz pro zwei Einwohner im Umkreis von 500 Metern.
- Studien zeigen, dass solche Gebiete Autofahrten um zwei Drittel reduzieren können.
- Bern und 18 weitere Gemeinden im Kanton Bern haben Potenzial für dieses Entwicklungsmodell.
Die Wohnungsnot verstehen
Die aktuelle Wohnkrise in der Schweiz resultiert laut Dr. Wälty aus zwei Hauptfaktoren. Erstens nutzen die Menschen mehr Wohnraum, weil sie es sich leisten können. Zum Beispiel könnten zwei Personen in einer Vierzimmerwohnung leben. Dieser Trend reduziert die Gesamtverfügbarkeit von Wohneinheiten.
Zweitens ist Wohnraum durch die Umwandlung in Bürogebäude verloren gegangen. In Bern beispielsweise hat sich die Zahl der Arbeitsplätze in den letzten 60 Jahren verdoppelt. Die Einwohnerzahl der Stadt ist jedoch im gleichen Zeitraum stagniert. Dieses Ungleichgewicht schafft eine erhebliche Nachfrage nach Wohnraum, die nicht gedeckt wird.
Fakt: Berns Arbeitsplatzwachstum
Die Zahl der Arbeitsplätze in Bern hat sich in den letzten sechs Jahrzehnten verdoppelt, während die Einwohnerzahl nicht gestiegen ist.
Das 10-Minuten-Quartier-Konzept
Dr. Wälty schlägt eine Strategie vor, die als «10-Minuten-Quartiere» bekannt ist, um Probleme der urbanen Dichte anzugehen. In diesen Gebieten hätten die Bewohner Zugang zu den meisten täglichen Bedürfnissen innerhalb eines zehnminütigen Spaziergangs. Dazu gehören ihr Zuhause, ihr Arbeitsplatz, wesentliche Dienstleistungen und öffentliche Verkehrsverbindungen. Dieses Modell zielt darauf ab, autarke und lebendige lokale Gemeinschaften zu schaffen.
Damit ein Quartier qualifiziert ist, benötigt es eine Bevölkerungsdichte, bei der mindestens 15'000 Menschen im Umkreis von 500 Metern leben. Zusätzlich sollte es einen Arbeitsplatz pro zwei Einwohner geben. Dr. Wälty, Dozentin an der ETH, berät über ihr Spin-off Resilientsy auch die Immobilien- und Planungsbranche. Sie lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Wohnung in Baden, Kanton Aargau.
«Viele Menschen wollen zentral wohnen und dafür auch in kleineren Wohnungen», sagt Dr. Wälty. «Die Nachfrage nach diesen zentral gelegenen Wohnungen ist sehr hoch.»
Vorteile des kompakten Wohnens
Das Konzept der 10-Minuten-Quartiere bietet mehrere Vorteile. Ein Hauptvorteil ist die Reduzierung der Autonutzung. Studien zeigen, dass in solchen Quartieren die Menschen doppelt so häufig zu Fuss zu ihren Zielen gehen. Dies führt zu einer signifikanten Reduzierung der Autofahrten um zwei Drittel. Weniger Autoverkehr bedeutet weniger Stau und geringere Umweltverschmutzung.
Darüber hinaus fördern diese Quartiere eine höhere Lebensqualität. Mit Annehmlichkeiten wie Cafés und Parks in der Nähe können Bewohner leicht Freunde treffen und ihre Freizeit geniessen, ohne weit reisen zu müssen. Dies fördert ein Gemeinschaftsgefühl und bietet Komfort, was die Wahrnehmung von reduziertem Wohnraum ausgleicht.
Hintergrund: Raumplanungsgesetz
Vor zehn Jahren stimmte die Schweiz über ein neues Raumplanungsgesetz ab. Dieses Gesetz priorisierte die Innenentwicklung gegenüber der Aussenentwicklung. Das bedeutet, der Fokus liegt auf der Optimierung bestehender Stadtgebiete, anstatt neue Siedlungen auf unbebautem Land zu errichten. Das 10-Minuten-Quartier-Konzept stimmt direkt mit diesem rechtlichen Rahmen überein.
Häufige Bedenken ansprechen
Wahrnehmung von reduziertem Raum
Einige Leute befürchten, dass erhöhte Dichte weniger Wohnraum pro Person bedeutet. Dr. Wälty weist darauf hin, dass der Wohnraum pro Person in städtischen Zentren bereits geringer ist. In Randgebieten sind es etwa 60 Quadratmeter pro Person. In dichteren Gebieten sind es durchschnittlich 35 bis 40 Quadratmeter pro Person. Sie argumentiert, dass viele Menschen bereit sind, etwas Platz für die Vorteile des zentralen Wohnens einzutauschen.
Die Idee ist nicht, einfach weniger Platz zu haben. Es geht darum, mehr Nähe zu allem zu haben, was das tägliche Leben attraktiv macht. Dazu gehören Geschäfte, Dienstleistungen und Grünflächen. Der Kompromiss wird oft von denen als lohnenswert angesehen, die einen urbanen Lebensstil suchen.
Potenzial für Konflikte
Ein weiteres Anliegen ist das Potenzial für mehr Konflikte, wenn Menschen eng zusammenleben. Dr. Wälty erklärt, dass es keine Beweise dafür gibt, dass bestehende 10-Minuten-Quartiere, wie das Breitenrain-Quartier in Bern, höhere Konfliktraten aufweisen als andere Gebiete. Tatsächlich haben kompakte Quartiere oft weniger Autoverkehr, was zu einer ruhigeren Umgebung führen kann.
Während Menschen möglicherweise mehr Lärm von Nachbarn hören, vermeiden sie auch den Stress des täglichen Pendelns und überfüllter öffentlicher Verkehrsmittel. Die allgemeine Lebensqualität kann sich verbessern, wenn wesentliche Dienstleistungen leicht zugänglich sind.
Dichtes Wohnen angenehm gestalten
Damit sich Menschen in einem dicht besiedelten Gebiet wohlfühlen, sind bestimmte Elemente entscheidend. Dr. Wälty betont die Bedeutung von öffentlich zugänglichen Parks und Grünflächen. Diese Bereiche bieten sichere Orte, an denen Menschen sich entspannen, Kontakte knüpfen und andere treffen können. Sie dienen als wichtige Gemeinschaftszentren in kompakten Umgebungen.
Bei der Diskussion über Stadtplanung stellt Dr. Wälty klar, dass Dichte nicht unbedingt den Bau von Wolkenkratzern bedeutet. Sie verwendet erneut das Beispiel Breitenrain und merkt an, dass vier- bis fünfstöckige Gebäude oft ausreichen, um die gewünschte Dichte zu erreichen. Der Fokus liegt auf intelligentem Design und effizienter Raumnutzung, nicht nur auf der Höhe.
- Öffentliche Grünflächen: Wesentlich für Gemeinschaftsinteraktion und Entspannung.
- Sichere Umgebungen: Bereiche, in denen sich Bewohner sicher fühlen, um sich zu versammeln.
- Gemeinschaftszentren: Orte, die soziale Verbindungen fördern.
Ländliche Gebiete und zukünftige Entwicklung
Das 10-Minuten-Quartier-Modell ist primär für städtische und semi-urbane Gebiete gedacht. Es ist nicht für rein ländliche Umgebungen geeignet. Im Kanton Bern beispielsweise fehlt vielen ländlichen Gemeinden die Kompaktheit, die für dieses Modell erforderlich ist. Dr. Wälty rät davon ab, dass mehr Menschen in sehr kleine, isolierte Orte ziehen.
Ausserhalb der Stadt Bern zeigen 18 weitere Gemeinden im Kanton Bern Potenzial für die Entwicklung von 10-Minuten-Quartieren. Diese Möglichkeit sollte bei der nächsten Überprüfung der Bau- und Zonenordnungen geprüft werden. Dies würde dazu beitragen, die Entwicklung hin zu nachhaltigeren und effizienteren Modellen zu lenken.
Der Traum vom Eigenheim
Trotz des Drängens auf Innenentwicklung träumen viele Menschen immer noch von einem Einfamilienhaus auf dem Land. Dr. Wälty erkennt dies an, verweist aber auf die nationale Abstimmung für mehr Innenentwicklung. Sie argumentiert, dass Städte den Status quo, selbst in historischen Gebieten, nicht einfach beibehalten können.
Zum Beispiel war die Berner Altstadt, ein UNESCO-Weltkulturerbe, einst ein 10-Minuten-Quartier. Sie hatte früher mehr Wohneinheiten. Obwohl sie sich nicht für eine Erweiterung oder Aufstockung der Altstadt ausspricht, betont sie deren Nähe zum Bahnhof. Dieser zentrale Standort sieht neue Gewerbe- und Bürogebäude, aber nicht genügend neuen Wohnraum.
Dr. Wältys persönliche Erfahrung
Dr. Wälty praktiziert, was sie predigt. Sie lebt in einer kleinen Wohnung in Baden und teilt sich etwa 75 Quadratmeter mit zwei weiteren Personen. Ihre Wohnung hat keinen Lift und keinen Balkon. Sie sieht dies nicht als Einschränkung.
«Ich schränke mich nicht ein», erklärt sie. «Vieles funktioniert einfach gut. Und weil wir schon lange in der Wohnung wohnen, ist sie auch bezahlbar.» Diese persönliche Entscheidung unterstreicht ihren Glauben an die Vorteile des kompakten, gut gelegenen Wohnens.
Eine Ausstellung zum Thema «10-Minuten-Quartiere» findet vom 3. bis 17. November auf dem Waisenhausplatz beim Meret-Oppenheim-Brunnen in Bern statt. Ein geführter Spaziergang startet am 8. November um 14 Uhr am Brunnen. Eine Podiumsdiskussion wird am 11. November um 19 Uhr im Progr, Bern, abgehalten.




