Ein neuer Bericht der ETH Zürich hat die Zukunft des Projekts Berner Ostast in Frage gestellt und den Plan, einen Abschnitt der Autobahn A6 unterirdisch zu verlegen, als «wenig prioritär» eingestuft. Diese Einschätzung hat sofortigen Widerstand von der Stadt Bern und der Gemeinde Muri ausgelöst, die argumentieren, der Bericht übersehe die entscheidende Rolle des Projekts für die Stadterneuerung.
Wichtige Erkenntnisse
- Eine ETH-Studie mit dem Titel «Verkehr '45» hat den Tunnel des Berner Ostastes als Verkehrsprojekt mit geringer Priorität eingestuft.
- Der Bericht legt nahe, dass die Umwandlung von Pannenstreifen die notwendige Verkehrskapazität zu geringeren Kosten erreichen könnte.
- Die Stadt Bern und die Gemeinde Muri haben den Bericht scharf kritisiert und die Vorteile des Projekts für die Stadtreparatur und Lebensqualität betont.
- Die Kontroverse verdeutlicht eine grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen einer technisch-verkehrsorientierten Sichtweise und einer breiteren städtebaulichen Perspektive.
- Die Entscheidung über den Ostast könnte auch die geplante Erweiterung des Autobahnanschlusses Wankdorf beeinflussen.
ETH-Bericht stellt verkehrliche Notwendigkeit in Frage
Die von ETH-Professor Ulrich Weidmann geleitete Studie analysierte die langfristigen Bedürfnisse der Schweizer Verkehrsinfrastruktur. Bezüglich des Berner Ostastes, der die Verlegung der Autobahn A6 zwischen Wankdorf und Muri in einen Tunnel vorsieht, kam der Bericht zu dem Schluss, dass er «aus verkehrlicher Sicht von geringer Priorität» sei.
Gemäss der Analyse könnte die erforderliche Verkehrskapazität einfacher durch die Umnutzung der bestehenden Pannenstreifen erreicht werden. Der Bericht legt nahe, dass die primäre Motivation für das teure Tunnelprojekt nicht die Verkehrsführung, sondern die «Städteplanung» sei.
Zwei Ziele, ein Projekt
Das Projekt Berner Ostast ist seit langem von widerstreitenden Zielen geprägt. Während das Bundesamt für Strassen (ASTRA) es primär als Massnahme zur Beseitigung eines Verkehrsnadelöhrs und zur Kapazitätserweiterung betrachtet hat, haben die lokalen Behörden es als Form der «Stadtreparatur» befürwortet. Ihr Ziel ist es, einen Planungsfehler aus den 1960er Jahren zu korrigieren, der eine wichtige Autobahn durch ein Wohngebiet führte.
Die Methodik der ETH-Studie konzentrierte sich auf technische Kriterien wie Verkehrsfluss, Kapazitätsengpässe und die wirtschaftliche Effizienz der Infrastruktur. Aus dieser engen Sichtweise erschien der Bau eines neuen vierspurigen Tunnels, der eine bestehende vierspurige Autobahn ersetzt, als ineffiziente Investition mit minimalen Gewinnen an Verkehrskapazität im Verhältnis zu den hohen Kosten.
Lokale Behörden lehnen Ergebnisse ab
Die Reaktion der betroffenen Gemeinden war schnell und deutlich. Am Tag der Veröffentlichung des ETH-Berichts gab der Berner Stadtrat eine Erklärung heraus, in der er dessen Schlussfolgerungen ablehnte. Sie argumentierten, dass eine solch einseitige Bewertung grosser Verkehrsprojekte nicht mehr zeitgemäss sei.
«Aus Sicht der Stadt Bern ist eine einseitige Betrachtung von grossen Verkehrsprojekten überholt. Die Vorteile des Berner Ostastes sind (...) primär in der einmaligen Chance zur Stadtreparatur im Osten Berns zu finden», heisst es in der Medienmitteilung der Stadt.
Der Stadtrat forderte den Bund auf, zu seiner Zusage zur Realisierung des Ostastes zu stehen. Diese Haltung wurde vom Gemeinderat Muri geteilt, der sein Bedauern über die Herabstufung des Projekts ausdrückte.
450 Hektar Potenzial
Laut der Gemeinde Muri würde die unterirdische Verlegung der Autobahn etwa 450 Hektar Land in Bern, Muri und Ostermundigen freisetzen. Dieses Land könnte für Wohnraum, Grünflächen und andere Gemeinschaftsnutzungen umgewidmet werden, was eine dichtere Stadtentwicklung ermöglicht und die Lebensqualität der Bewohner erheblich verbessert.
Für Muri stellt das Projekt einen entscheidenden Schritt zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Unterstützung eines nachhaltigen Wachstums dar. Beide Gemeinden fordern eine politische Korrektur, die die erheblichen städtebaulichen Vorteile berücksichtigt, die der technische Bericht ignoriert hat.
Breitere politische Implikationen
Die Sicherung der Bundesunterstützung für ein Projekt, das auf städtebaulichen Argumenten basiert, könnte sich als schwierig erweisen. Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) hat eine Präferenz für Projekte gezeigt, die die Strassenkapazität erweitern.
Dies zeigte sich an der positiven Aufnahme der Empfehlung des ETH-Berichts durch Bundesrat Albert Rösti, die Autobahnerweiterung Grauholz zu priorisieren – ein Projekt, das die Wähler in einer Volksabstimmung im November 2024 abgelehnt hatten. Dies deutet darauf hin, dass der Fokus des Departements weiterhin auf der Erhöhung des Verkehrsflusses liegt und nicht auf der Minderung der negativen Auswirkungen bestehender Infrastruktur.
Anwohner fordern sofortige Massnahmen
Während die Debatte über den Umfahrungstunnel weitergeht, fordern die Anwohner im betroffenen Gebiet sofortige Entlastung. Der lokale Quartierverein QuaV4 forderte den Kanton Bern im August auf, die bestehende Autobahn zu überdecken.
Jürg Krähenbühl, Präsident des Vereins, erklärte, dass diese Massnahme notwendig sei, um die Gemeinschaft vor ständigem Lärm und Umweltverschmutzung zu schützen, unabhängig von der langfristigen Entscheidung über den Ostast. Diese vorgeschlagene Lösung – die Überdeckung der bestehenden Autobahn – unterscheidet sich jedoch von ihrer Verlegung. Kritiker befürchten, dass die Überdeckung der Autobahn einen Präzedenzfall schaffen würde, sie dauerhaft im Wohngebiet zu belassen, was das übergeordnete Ziel der Stadtreparatur untergraben würde.
Auswirkungen auf den Wankdorf-Anschluss
Das Schicksal des Berner Ostastes ist auch mit einem weiteren grossen Infrastrukturprojekt verbunden: der Erweiterung des Autobahnanschlusses Wankdorf, oft als «Spaghetti-Junction» bezeichnet.
Der Verein Spurwechsel, eine Gruppe, die sich für nachhaltigen Verkehr einsetzt, stellte in seiner Stellungnahme zum ETH-Bericht fest, dass die Wankdorf-Erweiterung in enger Abstimmung mit dem Ostast konzipiert wurde. Ein erheblicher Teil der prognostizierten Kosten des Anschlusses entfällt auf die Verbindungsrampen zum geplanten Tunnel.
- Wird das Ostast-Projekt aufgegeben, schwächt sich die Begründung für die vollständige Wankdorf-Erweiterung erheblich ab.
- Gegner argumentieren, dass die Fortsetzung der Anschluss-Erweiterung ohne den Ostast unlogisch und finanziell unverantwortlich wäre.
Die Neueinstufung des Ostastes durch den Bericht könnte unbeabsichtigt eine Chance bieten. Indem die primäre Begründung des Projekts vom Verkehr auf die Stadtplanung verlagert wird, erzwingt dies eine neue Debatte über die Zukunft der A6 im Osten Berns. Diese neue Debatte würde sich nicht auf die Aufnahme weiterer Autos konzentrieren, sondern auf die Bedürfnisse der Stadt und ihrer Bewohner. Letztendlich könnte es der Bundesregierung schwerfallen, die wachsende Nachfrage nach Stadtreparatur und verbesserter Lebensqualität in den Schweizer Städten zu ignorieren.




