Die Mutter eines Jungen, der der einzige Zeuge in einem aufsehenerregenden Mordfall war, fordert nun systemische Änderungen im Schweizer Rechtssystem. Sie argumentiert, dass ihr damals 12-jähriger Sohn ohne angemessene Unterstützung immensen psychischen Belastungen ausgesetzt war, was eine kritische Schutzlücke für Minderjährige aufzeigt, die keine direkten Opfer eines Verbrechens sind.
Ihre Kampagne hat eine nationale Debatte über die Verantwortung des Justizsystems gegenüber seinen jüngsten und schutzbedürftigsten Teilnehmern ausgelöst.
Wichtige Erkenntnisse
- Die Mutter eines 12-jährigen Hauptzeugen in einem Berner Mordfall hat eine Petition für eine Gesetzesreform gestartet.
- Die Aussage des Jungen war entscheidend für die Verurteilung einer Frau wegen Mordes an ihrer 8-jährigen Tochter.
- Die Familie berichtet von schwerem psychischem Trauma und mangelnder institutioneller Unterstützung während der Ermittlungen und des Prozesses.
- Die Petition fordert obligatorischen Rechtsbeistand, psychologische Unterstützung und standardisierte, kinderfreundliche Vernehmungsverfahren für alle minderjährigen Zeugen.
Das Gewicht einer Aussage
Im Februar 2022 ereignete sich im Könizbergwald bei Bern ein Fall, der die Gemeinschaft schockierte. Ein achtjähriges Mädchen wurde tot aufgefunden, und ihre Mutter wurde später des Verbrechens angeklagt. Die Ermittlungen stützten sich auf begrenzte Beweismittel, wodurch die Aussage eines einzigen Zeugen von entscheidender Bedeutung war.
Dieser Zeuge war ein 12-jähriger Junge, der unter dem Pseudonym Lukas bekannt ist. Als er am Abend des 1. Februar 2022 mit seinem Hund spazieren ging, sah er die Mutter und ihre Tochter gemeinsam in den Wald gehen. Er war die einzige Person, die sie am Tatort platzierte.
Seine Mutter, Daniela S. (Name geändert), erinnert sich an den Moment, als ihr Sohn die Schwere dessen erkannte, was er gesehen hatte. „Als er nach Hause kam und mir sagte, er müsse mit der Polizei sprechen, war er völlig aufgelöst“, erklärte sie. „Wir hatten keine Ahnung, was sich entfalten würde.“
Eine traumatische juristische Reise
Lukas gab seine Aussage bei der Polizei in einem Interview, das laut seiner Mutter etwa vier Stunden dauerte. In den folgenden Monaten und Jahren forderte das Gewicht, der Hauptzeuge zu sein, einen hohen Tribut. Daniela S. beschrieb, wie ihr Sohn mit Schuldgefühlen, Angst und Furcht kämpfte.
„Er weinte viel. Er begann, sich selbst die Schuld zu geben und fragte sich, ob er etwas hätte tun können, um das Mädchen zu retten“, sagte sie. „Später bekam er Angst, dass die angeklagte Frau Rache nehmen könnte. Einmal sagte er mir: ‚Ich wünschte, ich hätte nie gesagt, was ich gesehen habe.‘“
Die Situation verschärfte sich während des Prozesses. Die Verteidigungsstrategie konzentrierte sich darauf, Lukas' Aussage zu diskreditieren. Das Gericht hörte von einem anonymen Brief an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb), der falsche Anschuldigungen gegen den Jungen enthielt. Obwohl polizeiliche Ermittlungen die Behauptungen schnell entkräfteten, nutzte der Verteidiger den Brief vor Gericht, und einige Medien berichteten über die Anfechtung der Glaubwürdigkeit des jungen Zeugen.
Das Urteil
In einem zweitinstanzlichen Urteil verurteilte das Berner Obergericht die 33-jährige Mutter zu 18 Jahren Haft. Die Verurteilung basierte auf 16 Indizienpunkten, wobei Lukas' Aussage ein Eckpfeiler der Anklage war. Es wird erwartet, dass das Urteil vor dem Bundesgericht angefochten wird.
Ein Ruf nach systemischer Veränderung
Daniela S. fühlte sich vom System im Stich gelassen und suchte über ihren Hausarzt psychologische Hilfe für ihren Sohn. „Wir waren völlig auf uns allein gestellt“, erklärte sie und drückte ihre Frustration über die mangelnde proaktive Unterstützung durch die Justiz- und Kindesschutzbehörden aus.
Diese Erfahrung hat sie motiviert, sich für Veränderungen einzusetzen. Sie startete eine Online-Petition, die bereits fast 7.000 Unterschriften gesammelt hat. Die Petition skizziert mehrere zentrale Forderungen zur Reform des Umgangs des Schweizer Justizsystems mit minderjährigen Zeugen:
- Obligatorischer Rechtsbeistand: Jeder minderjährige Zeuge in einem schwerwiegenden Strafverfahren sollte von Anfang an einen Anwalt zugewiesen bekommen.
- Psychologische Unterstützung: Professionelle psychologische Dienste sollten sofort und während des gesamten Gerichtsverfahrens zur Verfügung gestellt werden.
- Elterliche Beteiligung: Eltern sollten umfassend über den Prozess informiert werden und das Recht haben, bei Befragungen anwesend zu sein.
- Standardisierte Verfahren: Vernehmungen von Kindern müssen strengen, altersgerechten Richtlinien folgen, um Stress zu minimieren, einschliesslich Begrenzungen der Dauer.
Expertenmeinungen zu aktuellen Schutzmassnahmen
Rechtsexperten bestätigen, dass im Schweizer Recht bereits einige Schutzmassnahmen für Minderjährige existieren. So sind Zeugen unter 15 Jahren rechtlich nicht zur Wahrheit verpflichtet und können nicht wegen Falschaussage belangt werden. Bei Befragungen befinden sich Verteidiger und Staatsanwälte oft in einem separaten Raum und stellen Fragen über einen speziell geschulten Interviewer.
Spezialisten wie Annegret Lautenbach von der Kinderanwaltschaft Schweiz sind jedoch der Meinung, dass dieser Fall erhebliche Lücken aufzeigt. Sie schlägt vor, dass in einem Fall mit so hohen Einsätzen sofort rechtliche und psychologische Unterstützung hätte bereitgestellt werden müssen, wobei der minderjährige Zeuge mit dem gleichen Mass an Sorgfalt wie ein Opfer behandelt werden sollte.
Der Weg nach vorn
Die Kantonspolizei Bern erklärte, dass das erste Interview mit Lukas von speziell geschulten Beamten durchgeführt wurde und zwei Stunden dauerte, was sie als akzeptabel erachten. Sie wiesen auch darauf hin, dass Daniela S. informiert wurde, dass sie ihren Sohn begleiten könne, dies aber aufgrund eines kranken Kindes zu Hause nicht möglich war. Sie sagt, sie sei nicht über die Ernsthaftigkeit des Falles informiert worden und habe geglaubt, es handele sich um einen Unfall.
Für Lukas, der jetzt 15 ist und eine Lehre macht, war Sport ein entscheidendes Ventil zur Verarbeitung des Traumas. Seine Mutter sagt, dass er zwar selten über die Ereignisse spricht, die Erfahrung ihn aber weiterhin beeinflusst. Ein Therapeut bot ihm eine Perspektive an, die geholfen hat: „Du hast das für das Mädchen getan, das keine Stimme mehr hat.“
Daniela S. hat ihre Petition beim Bundesparlament eingereicht und wartet auf eine Antwort. Ihre Bemühungen haben Unterstützung von verschiedenen Kinderschutzorganisationen erhalten, was auf einen wachsenden Konsens hindeutet, dass Lukas' Fall zwar extrem sein mag, aber eine Schwachstelle im Justizsystem aufdeckt, die angegangen werden muss, um zukünftige Kinderzeugen vor ähnlichen Torturen zu schützen.




